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Deutung und Umdeutung sexualisierter Gewalt
Wie sexualisierte Gewalt (um-)gedeutet wird und welche Muster des Sprechens („Narrative“) über sexualisierte Gewalt im kirchlichen Raum erkennbar sind
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden weit über 100 Tatvorwürfe sexualisierter Gewalt untersucht. Viele Aspekte der einzelnen Fälle und das damit verbundene Erleben der Betroffenen sind sehr individuell. Bei einer vergleichenden Betrachtung fallen aber auch einige Gemeinsamkeiten und strukturelle Ähnlichkeiten auf. Ein wichtiger Ansatz wissenschaftlichen Arbeitens ist es, solche ähnlichen Muster zu identifizieren und Erklärungen dafür zu suchen.
In vielen Fällen lässt sich beobachten, dass die Anbahnung und Begehung sexualisierter Gewalt nicht erkannt oder als ein vermeintliches harmloses Verhalten gedeutet wurden. Solche gezielten oder unbewussten (Um-)Deutungen sorgten dafür, dass die Gewalt überhaupt erst ermöglicht und in vielen Fällen auch nicht bald beendet wurde. Oft trugen solche (Um-)Deutungen auch zur Verharmlosung, Verdeckung oder Vertuschung der Tat bei. Die Erforschung dieser Umdeutungen ist somit ein Schlüssel, um Vorgänge sexualisierter Gewalt, ihre jahrelange Verdeckung und die oft mangelhafte Aufarbeitung besser zu verstehen.
Im Vergleich der Tatrekonstruktionen zeigt sich, dass diese (Um-)Deutungsversuche oft argumentativen Mustern entsprechen, die sich in verschiedenen Fällen wiederholen. Diese Muster beruhen auf verbreiteten sinnstiftenden Erklärungen. Mit diesen Erklärungen konnten die Beteiligten und Zeitzeugen sexualisierte Gewalt in ihrem Erfahrungshorizont einordnen und/oder ihr Handeln im Umgang mit Betroffenen oder Beschuldigten begründen.
Die im folgenden untersuchten Erklärungsmuster werden hier als „Narrative“ im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt bezeichnet. Diese Narrative können bei sehr unterschiedlichen Erklärungen ansetzen. Sie sind abhängig davon, wer sie vertritt (Betroffene, Beschuldigte, Kirchenleitung, Umfeld). Wichtig ist auch die Frage, welche Narrative im zeitgenössischen gesellschaftlichen Umfeld verbreitet waren und als sinnstiftend anerkannt wurden. Dabei ist festzuhalten, dass es sich bei den Narrativen um menschliche Konstruktionen handelt: Sie sind das Ergebnis von Versuchen, Wahrnehmungen und Erfahrungen in einen sprachlichen Rahmen einzufügen und sie so kommunizierbar zu machen. Erfolgreiche und anschlussfähige Narrative werden zu den beschriebenen Mustern. Als menschliche Konstruktionen sind die Narrative dem zeitlichen Wandel der Gesellschaften unterworfen, in denen sie verwendet werden.
Bei einer Betrachtung der Narrative bietet es sich an, sie wegen inhaltlicher Ähnlichkeiten zu Kategorien zusammenzufassen. Folgende Kategorien werden betrachtet und analysiert:
- Pathologisierung: Die hier erläuterten Narrative deuten die Vorwürfe sexualisierter Gewalt als das Ergebnis von krankhaften Zuständen beim Beschuldigten oder bei den Betroffenen
- Narrative mit Bezug auf Fürsorge und Erziehung der Betroffenen: Die hier geschilderten Narrative deuten Handlungen sexualisierter Gewalt als Handlungen, die angeblich auf das körperliche oder geistige Wohlergehen der Betroffenen oder auf deren Erziehung und Bildung gerichtet waren.
- Nähe und Distanz in der Erfüllung seelsorglicher Berufe: Narrative dieser Kategorie zielen darauf ab, sexualisierte Gewalt als möglicherweise missverständliches oder ungeschicktes Verhalten im Rahmen üblicher sozialer Kontakte zu erklären. Die großen Spielräume, die Geistlichen in der Gestaltung ihrer Tätigkeit offenstehen bzw. -standen und die unklare Abgrenzung der Amtsausübung von anderen Formen der sozialen Interaktion stellen in diesem Sinne eine Ermöglichungsbedingung von Gewalthandlungen dar.
- Narrative, die eine Mitschuld der Betroffenen unterstellen: Diese Narrative verbindet die darin aufgestellte Behauptung, dass die Betroffenen sexualisierter Gewalt einen wesentlichen Anteil daran hätten, dass es zu den Taten kommen konnte.
- Rituelle oder sakramentale Inszenierung des Handelns: Es handelt sich um Narrative, die kirchliche oder pseudo-liturgische Handlungen als Begründungsrahmen für sexualisierte Gewalt anführen. Gerade hier zeigt sich, dass die großen Gestaltungsspielräume des Geistlichen in der Seelsorge erst ermöglichen, sexualisierte Gewalt oder deren Anbahnung als unverfängliche Amtshandlung zu deuten.
Die oben aufgeführten Gruppen von Narrativen erscheinen vor allem als Deutungsversuche für das berichtete Tatgeschehen. Davon zu unterscheiden ist eine zweite Gruppe von Narrativen, die nachgelagert im Zuge der Offenlegung und Aufarbeitung von Taten zu beobachten ist und die diese Aufarbeitung erheblich mitprägt:
- Vorwurf der Instrumentalisierung: Es handelt sich um Narrative, die sich vor allem auf Tatvorwürfe beziehen. Denjenigen, die die Vorwürfe erheben, werden Motive unterstellt, die nicht (nur) die Aufklärung der vorgeworfenen Taten zum Ziel haben.
- Narrative zu Verantwortung und übergeordneten Pflichten: Diese Kategorie befasst sich mit Erklärungs- und Begründungsmustern, die sich auf das (unterlassene) Aufdecken oder die problematische Aufarbeitung von Vorwürfen sexualisierter Gewalt beziehen. Die Narrative sollen diesen Vorgängen einen nachvollziehbaren Sinn verleihen.
Zur Struktur der Texte: Die Narrative werden im unten verlinkten Kapitel jeweils kurz vorgestellt unter Verweis auf wissenschaftliche Forschungen und geläufige kulturelle Vorstellungen. In einem zweiten Teil (abgegrenzt durch ***) werden bei jedem Narrativ die für das Bistum Osnabrück herausgearbeiteten Befunde präsentiert.
Begriffe
Im Rahmen des Abschlussberichts verwenden wir wiederkehrend zentrale Begriffe, die wir an dieser Stelle definiert und erläutert haben: Glossar