"Betroffene - Beschuldigte - Kirchenleitung"

Interdisziplinäres Projekt der Universität Osnabrück


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Hauptinhalt

Topinformationen

Ergebniszusammenfassung

Welche Erkenntnisse die Forschenden zusammenfassend gewinnen konnten

Kernergebnisse

Folgende Kernergebnisse und -befunde des Forschungsprojekts lassen sich hervorheben:

  • Im Untersuchungszeitraum konnten aus allen herangezogenen Erkenntnisquellen 122 beschuldigte Priester und Diakone (im Folgenden: Kleriker) des Bistums Osnabrück ermittelt werden, denen vorgeworfen wird, dass sie sexualisierte Gewalt – unterschiedlicher Schwere – gegen Minderjährige oder schutz- und hilfebedürftige Erwachsene verübt haben. Diese Zahl bezieht sich auf das Bistum Osnabrück seit 1945 in seiner jeweiligen Gestalt, also auch auf Kleriker des Bistums Osnabrück, die nach der Teilung des Bistums im Jahr 1995 zum Erzbistum Hamburg kamen. Den 122 Beschuldigten lassen sich Taten an 349 identifizierbaren Betroffenen zuordnen. Überdies gibt es konkrete Hinweise auf mehr als 60 weitere Betroffene, so dass von über 400 Betroffenen auszugehen ist. Insgesamt haben die Betroffenen 116 Anträge auf finanzielle Entschädigung in Anerkennung des Leids gestellt, einige davon mehrfach.
  • Zu Beginn des Projekts im Jahr 2021 waren ca. 80 Beschuldigte bekannt. Im Verlauf der Projektarbeit erhöhte sich diese Zahl um ca. 50% auf 122. Überhaupt erstmals ermittelt werden konnte die Gesamtzahl der identifizierbaren Betroffenen. Die Dunkelziffer der Taten und insbesondere der Betroffenen ist jedoch unbekannt und kann mit den Erkenntnisquellen des Forschungsprojekts nicht erfasst werden. Schätzungen der Zahl der Betroffenen aus anderen Studien gehen von einem Vielfachen bis hin zum 10fachen aus.
  • Der Anteil der seit 1945 in der Seelsorge eingesetzten Kleriker im Bistum Osnabrück, gegen die Beschuldigungen wegen sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und schutzbedürftige Personen erhoben wurde, beträgt 4,1% (122 von ca. 3.000 Klerikern). Diese Größenordnung bestätigt im Wesentlichen die Befunde zu anderen katholischen Bistümern in Deutschland und verweist auf eine mögliche Konstante.
  • Als Ursachen für sexualisierte Gewalt und insbesondere für das lange unzureichende Handeln der Bistumsleitung Osnabrück zeigen sich, wie schon im 2022 vorgelegten Zwischenbericht deutlich geworden ist, Machtstrukturen, Organisationsmängel und Fehlverhalten auf allen Ebenen kirchlicher Tätigkeit. Die Gesamtbetrachtung der 122 ermittelten Beschuldigten, der ihnen vorgeworfenen Taten und der davon Betroffenen hat das im Zwischenbericht anhand von 16 genau untersuchten Fallbeispielen gezeichnete Bild bestärkt. Dieser Zwischenbericht hat dargestellt, wie die Bischöfe und die Bistumsleitungen sich verhalten haben, wenn sie Hinweise auf verdächtige Kleriker erhielten und bewertet, ob die ergriffenen Maßnahmen pflichtgemäß und angemessen waren. Der Befund war, dass das Bistum Osnabrück seine Pflichten, Maßnahmen gegen gefährliche Kleriker zu ergreifen, über lange Zeit erheblich verletzt, in der jüngsten Zeit jedoch überwiegend erfüllt hatte. Hingegen hatte das Bistum Osnabrück die Pflicht, den Betroffenen zu helfen, über lange Zeit in erheblichem Maße bis in die jüngste Vergangenheit verletzt. Für das Erzbistum Hamburg, zu dem seit 1995 viele Gebiete und Kleriker des Bistums Osnabrück gehören, zeigte sich, jedoch an nur wenigen Fällen, ein ähnliches Bild.
  • Viele der festgestellten Organisationsmängel sind in den letzten Jahren, besonders auch nach dem Zwischenbericht, durch Maßnahmen verringert worden, insbesondere im Bistum Osnabrück, etwas weniger, soweit erkennbar, im Erzbistum Hamburg. Ob diese Maßnahmen ausreichen, um die festgestellten Defizite, besonders im Verhalten und der Entschädigungspraxis gegenüber Betroffenen, zu beseitigen, kann angesichts des kurzen Beobachtungszeitraums nicht abschließend beurteilt werden.
  • Über diese auch in anderen Studien ermittelten Organisationsmängel hinaus konnte als weitere wesentliche Ursache die Art und Weise des Sprechens über sexualisierte Gewalt im kirchlichen Raum herausgearbeitet werden. Sprachliche Umdeutungen sexualisierter Gewalt ermöglichten es den Beschuldigten, ihr Handeln zu verbergen, zu verharmlosen oder als Teil ihrer priesterlichen Aufgaben erscheinen zu lassen. Vielfach gaben sich die Bistumsleitungen damit zufrieden und sind nicht oder nur unzureichend gegen die Beschuldigten vorgegangen. Beschuldigte konnten dadurch weitere Taten begehen. Konsequente Maßnahmen wurden häufig erst unternommen, wenn die Taten zu offensichtlich waren, der öffentliche Druck zu groß wurde und „Narrative“ (also deutende Erzählungen) ihre Wirkmacht verloren.
  • Die hier vorgelegte Studie zum Bistum Osnabrück zeigt zahlreiche solcher „Narrative“ an konkreten Fällen und veranschaulicht ihre Funktion bei der Tatanbahnung, -begehung und dem Sprechen über Beschuldigungen sowie Sprechen über Betroffene. Die Beschäftigung mit „Narrativen“ erlaubt auch Aussagen über die Rolle des sozialen Umfeldes der Taten, etwa der Gemeinden, in denen sie verübt wurden. Eine Untersuchung geläufiger Narrative ermöglicht einen Zugriff auf diese ansonsten schwierig fassbare Ebene von Fällen sexualisierter Gewalt. Solche „Narrative“ zu kennen, zu erkennen und zu entkräften ist eine wichtige Voraussetzung dafür, sexualisierte Gewalt als solche zu erfassen und angemessen zu handeln.

Überblick über wichtige Projektergebnisse

Der folgende Überblick verweist – jeweils im Zusammenhang – auf Quellen und weiterführende Ergebnisdarstellungen. Alle Projektergebnisse, auch dieser Bericht, sind über die zentrale Projekthomepage auffindbar, deren Adresse & Link unten auf jeder Seite zu finden ist.

Dieser Überblick enthält Abschnitte zu folgenden Themen:

Betroffene, Beschuldigte und Taten in Zahlen: Wie viele Beschuldigte und Betroffene konnten ermittelt werden und was sagen die Zahlen aus?

Sprachliche Deutung und Umdeutung sexualisierter Gewalt: Wie wird sexualisierte Gewalt (um-)gedeutet und welche Muster des Sprechens („Narrative“) über sexualisierte Gewalt im kirchlichen Raum sind erkennbar?

Einblicke als mittelbare Zeugnisse: Welche Einblicke in Situationen sexualisierter Gewalt im kirchlichen Raum können beispielhaft gegeben werden?

Pflichten und Pflichtverletzungen der Bistumsleitungen: Was haben die Bistumsleitungen getan oder nicht getan, um sexualisierte Gewalt zu verhindern und Betroffenen zu helfen?

Quellen und Methoden: Was haben die Forschenden unternommen, um sexualisierte Gewalt mit den Mitteln der Wissenschaft aufzudecken und zu deuten?

Betroffene im Forschungsprozess: Wie haben Betroffene die Forschungen erlebt und mitgestaltet?

Ausblick: Welche wissenschaftlichen Arbeiten laufen weiter?

Forscherinnen & Forscher – Danksagungen: Wer hat an den Forschungsarbeiten mitgewirkt?

Betroffene, Beschuldigte und Taten in Zahlen

Wie viele Beschuldigte und Betroffene konnten ermittelt werden und was sagen die Zahlen aus?

Im Untersuchungszeitraum 1945-2023 konnten 122 Kleriker des Bistums Osnabrück identifiziert werden, die beschuldigt worden sind, sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige oder schutz- und hilfebedürftige Erwachsene verübt zu haben. 45 dieser Beschuldigten entfallen auf den Teil des Bistums, der 1995 abgespalten und zum Erzbistum Hamburg wurde. Bezogen auf die Gesamtzahl der knapp 3.000 Kleriker, die im Untersuchungszeitraum und Untersuchungsgebiet in der Seelsorge für das Bistum Osnabrück eingesetzt waren, sind damit gegen 4,1% aller Kleriker Beschuldigungen sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige oder schutz- und hilfebedürftige Personen bekannt geworden. Etwa einer von 25 Klerikern wurde also beschuldigt.

Denkbar ist, dass in einigen Fällen Beschuldigungen gegen Kleriker zu Unrecht erhoben worden und mitgezählt worden sind. Dieses Forschungsprojekt kann darüber keine Aussage treffen, sondern nur feststellen, dass Beschuldigungen vorliegen, nicht, ob sie zutreffen. Die weitaus meisten der im Forschungsprojekt bekannt gewordenen Beschuldigungen sind jedoch sehr konkret und substantiiert. Viele werden außerdem durch weitere Quellen, nicht selten auch durch Aussagen des Beschuldigten, bestätigt, so dass zu Unrecht erhobene Vorwürfe wahrscheinlich nur eine Ausnahme sein werden.

Der für das Bistum Osnabrück festgestellte Anteil von 4,1% beschuldigter Kleriker entspricht ungefähr dem jeweiligen Anteil Beschuldigter an der Gesamtzahl der Kleriker, die vergleichbare Studien für Zeitabschnitte nach 1945 in anderen deutschen (Erz)-Bistümern (u.a. Berlin: 4,2%; Köln: 3,1%; Münster: 4,2%) sowie in einer internationalen Metastudie (Frankreich: mind. 2,8%) festgestellt haben. Es scheint also einen konstanten Erwartungswert für Beschuldigungen gegen Kleriker zu geben, der – jedenfalls für Zeiträume ab 1945 – bei 4% liegt. Daraus kann nicht gefolgert werden, dass der Erwartungswert von etwa 4% auch für die gegenwärtig in der Seelsorge eingesetzten Kleriker gilt, da zumindest denkbar ist, dass in den letzten Jahren das Ausmaß sexualisierter Gewalt oder jedenfalls der Anteil beschuldigter Kleriker geringer geworden ist.

Aus allen herangezogenen Erkenntnisquellen ergaben sich Hinweise darauf, dass die 122 beschuldigten Kleriker gegen 349 identifizierbare Minderjährige oder schutz- und hilfebedürftige Erwachsene sexualisierte Gewalt verübt haben. Außerdem gibt es Hinweise, dass die Beschuldigten an mindestens 60 weiteren nicht identifizierbaren Minderjährigen oder schutz- und hilfebedürftigen Erwachsenen sexualisierte Gewalt begangen haben. Die Gesamtzahl der ermittelbaren Betroffenen sexualisierter Gewalt im Bistum Osnabrück im Untersuchungszeitraum liegt also bei mehr als 409 Minderjährigen bzw. schutz- und hilfebedürftigen Erwachsenen.

Nicht bekannt und mit den Untersuchungsmethoden des Projekts nicht feststellbar ist das Dunkelfeld, also die Abschätzung, ob es weitere Täter gab oder ob die 122 Beschuldigten gegen weitere, bislang unbekannte Betroffene sexualisierte Gewalt verübt haben. Es muss davon ausgegangen werden, dass insbesondere die tatsächliche Zahl der Betroffenen deutlich größer ist, vermutlich sogar die bekannt gewordenen Fälle um ein Vielfaches übersteigt. Schätzungen aus anderen Studien nehmen ein Dunkelfeld bis hin zum 10fachen der ermittelbaren Anzahl an.

Fast 60% der 349 identifizierbaren Betroffenen waren dem männlichen, ca. 25% dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen. Bei 15% war das Geschlecht nicht angegeben (und die Forschenden haben keine Schritte unternommen, um es zu ermitteln). Blickt man nur auf diejenigen, bei den das Geschlecht aus Akten und Interviews bekannt ist, waren also 70% männlich und 30% weiblich.

Angaben zum Alter der Betroffenen zum Zeitpunkt der Taten, der Kleriker beschuldigt werden, sind nur annäherungsweise möglich, weil das genaue Alter der Betroffenen zum Tatzeitpunkt häufig nicht feststellbar ist und weil in etlichen Fällen sich Taten über einen längeren Zeitraum erstreckten. Soweit das Alter feststellbar ist, liegt es größtenteils in den Altersgruppen unter 12 Jahren sowie 12-15 Jahren, wobei männliche Betroffene häufiger jünger sind (vor der Geschlechtsreife), weibliche häufiger etwas älter.

Bei 62 der beschuldigten Kleriker ist nur jeweils ein einziger identifizierbarer Betroffener bekannt geworden (davon 29 männlich, 30 weiblich, drei unbekannt). Bei 25 der beschuldigten Kleriker sind jeweils zwei identifizierbare Betroffene bekannt geworden, davon 24 männlichen und 26 weiblichen Geschlechts. Sieben beschuldigte Kleriker ragen aus den 122 dadurch heraus, dass sie sexualisierter Gewalt gegen zehn und mehr Betroffene beschuldigt werden. Diese Kleriker scheinen überwiegend auf ein Geschlecht fixiert zu sein. Bei vier von diesen sieben schwer beschuldigten Klerikern sind ausschließlich männliche Betroffene bekannt, während zwei dieser Kleriker sexualisierter Gewalt gegen Betroffene beider Geschlechter beschuldigt werden. In einem besonderen Fall, bei dem ein Kleriker exhibitionistischer Handlungen gegenüber mehr als 50 Betroffenen beschuldigt wird, sind beide Geschlechter betroffen. Weitet man den Blick etwas und schaut auf alle Beschuldigten, bei denen drei und mehr Betroffene bekannt sind (also einschließlich der sieben eben genannten besonders schwer Beschuldigten), dann zeigen sich 28 beschuldigte Kleriker und 237 identifizierbare Betroffene (zuzüglich mindestens 28 nicht identifizierbare). Unter den von den Taten dieser 28 beschuldigten Kleriker betroffenen Minderjährigen sind mehr als 80% männlichen Geschlechts.

Sprachliche Deutung und Umdeutung sexualisierter Gewalt

Wie wird sexualisierte Gewalt (um-)gedeutet und welche Muster des Sprechens („Narrative“) über sexualisierte Gewalt im kirchlichen Raum sind erkennbar?

Im Rahmen des Projekts hat sich eine in anderen Studien bisher so nicht beschriebene Erklärung für das Nichthandeln bei sexualisierter Gewalt gezeigt. Sehr häufig wurden die Anbahnung und Begehung sexualisierter Gewalt nicht erkannt oder als ein vermeintlich harmloses Verhalten im kirchlichen Rahmen gedeutet. Eine Mitursache dafür war die Art und Weise, wie im kirchlichen Raum, nicht nur von Klerikern, sondern auch z.B. von Gemeinde- und Familienmitgliedern, teilweise auch von den Beschuldigten und Betroffenen selbst, über Beobachtungen und Erfahrungen zu sexualisierter Gewalt von Klerikern gesprochen und geschrieben worden ist.

Taten sexualisierter Gewalt finden meistens im Verborgenen und ohne Zeugen statt. Sie werden erst sichtbar, wenn darüber gesprochen wird. Viele Menschen können darüber nicht sprechen. Auch sind diejenigen, die über sexualisierte Gewalt sprechen, nicht objektive Beobachter der Tatsituation, wie es vielleicht Bild- oder Tonaufzeichnungsgeräte wären. Jeder, der vor dem Hintergrund von verbreiteter Sprachlosigkeit über sexualisierte Gewalt spricht, transportiert, neben einer bloßen Tatsachenschilderung, auch Erklärungen, Deutungen und Bewertungen. Dies gilt für den Beschuldigten, für die Betroffenen und für alle weiteren Personen; selbst dann, wenn nur der Beschuldigte und ein Betroffener miteinander sprechen. Eine für das Verstehen sexualisierter Gewalt und die Reaktionen darauf zentrale Erkenntnis ist, dass diese Erklärungen, Deutungen und Bewertungen charakteristische Muster erkennen lassen, wenn man viele Fälle betrachtet und viele Personen zu Wort kommen lässt.“. Diese Muster nennt man wissenschaftlich „Narrative“ (den Begriff kann man z.B. mit „deutende Erzählung“ übersetzen).

Die vielleicht unbewussten, möglicherweise aber auch beabsichtigten (Um-)Deutungen durch Narrative sorgten dafür, dass sexualisierte Gewalt überhaupt erst ermöglicht und in vielen Fällen auch nicht unmittelbar beendet wurde. Oft trugen solche (Um-)Deutungen auch zur Verharmlosung, Verdeckung oder Vertuschung der Tat bei. Die Erforschung dieser Umdeutungen durch Narrative ist somit ein Schlüssel, um Vorgänge sexualisierter Gewalt, ihre jahrelange Verdeckung und die oft mangelhafte Aufarbeitung besser zu verstehen.

Das Forschungsprojekt hat versucht, typische Narrative herauszuarbeiten und zu beschreiben. Es ist wichtig, dass Menschen, die mit sexualisierter Gewalt, insbesondere an Minderjährigen, konfrontiert sind, solche Narrative erkennen können, um sie nicht einfach zu übernehmen, sondern aus der Zusammenschau verschiedener Narrative das tatsächliche Geschehen und die Rolle der jeweiligen Sprecher besser erschließen zu können. Denn „Narrative“ haben typischerweise Zwecke und Funktionen, die mit der Rolle des Sprechers zusammenhängen. Sehr häufig dienen sie der Entlastung, für eigenes Tun oder Nichts- beziehungsweise Zu-Wenig-Tun. Die Studie zeigt zahlreiche solcher Narrative an konkreten Beispielen und veranschaulicht ihre Funktion.

Viele dieser Narrative dienen der Deutung von Taten. Beispiele sind etwa die Pathologisierung des Beschuldigten (also das Deuten des Handelns des Beschuldigten als krankhaft, insbesondere als psychische Störung wie Pädophilie, als Folge einer verzögerten sexuellen Entwicklung oder auch einer früher lange Zeit als „krankhaft“ eingestuften Homosexualität). Auch der Zölibat kann in diesem Zusammenhang als eine Art Krankheitsursache dargestellt werden, wenn er als Unterdrückung eines natürlichen sexuellen Triebempfindens verstanden wird. Da der Zölibat ein populäres Deutungsmuster zur Erklärung sexualisierter Gewalt ist, sei darauf hingewiesen, dass beim derzeitigen Stand der Forschung kein unmittelbarer kausaler Zusammenhang zwischen sexualisierter Gewalt und zölibatärer Lebensweise erwiesen ist. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass der Zölibat wegen möglicher Zusammenhänge mit der sexuellen Entwicklung von Priestern ein begünstigender Faktor für sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige sein könnte.

Andere verbreitete Narrative zur Deutung sexualisierter Grenzüberschreitungen durch Kleriker gegenüber Minderjährigen sind fehlgeleitete Fürsorge oder Erziehung in Erscheinungsformen wie beispielsweise vorgebliche Sexualaufklärung, erziehende Bestrafung (Prügel), medizinische Fürsorge oder Unterricht (zum Beispiel Nachhilfe oder Musik). Ein verbreitetes Verharmlosungsnarrativ ist auch die Behauptung einer angeblichen Mitschuld der Betroffenen bis hin zur Täter-Opfer-Umkehr, also z.B. das Kinder aufgrund von Defiziten in Erziehung und Sozialisation ein starkes sexuelles Interesse zeigen oder dass insbesondere weibliche Jugendliche Kleriker verführen würden. In diesen Zusammenhang gehört auch das verbreitete Narrativ einer „Liebesbeziehung“ zwischen minderjährigen weiblichen Jugendlichen und Klerikern.

Andere Narrative deuten nicht das Verhalten von Täter und Betroffenen vor und während der Tat, sondern das Verhalten, wenn häufig geraume Zeit später Vorwürfe erhoben werden. Hier zeigen sich zum einen Narrative, die den Betroffenen niedere Beweggründe unterstellen, wie z.B. Geldgier, Kirchenhass oder Interesse an Rufmord. Zugleich zeigen sich Narrative, mit denen Verantwortliche, insbesondere die Bistumsleitung, ihr Verhalten deuten. Dazu gehört das Handeln zum Schutz eines höheren Gutes wie des Ansehens der Kirche oder des Glaubens der Gemeindeangehörigen, aber auch, dass das Bistum für private Handlungen oder Handlungen an weit entfernten Orten seiner Kleriker nicht verantwortlich sei oder dass es keine Möglichkeit zur besseren Überwachung oder zur Aufklärung von Vorwürfen gegeben habe.

Solche Narrative, die in den mehr als 100 Fällen im Bistum Osnabrück vielfach zu erkennen waren, werden näher erläutert und mit Beispielen veranschaulicht. Die Ergebnisse dieser Untersuchung können dazu beitragen, dass Verantwortliche, wenn sie um die Verbreitung und Funktion derartiger Narrative wissen, aber auch alle weiteren Personen, die darüber sprechen, sexualisierte Gewalt besser erkennen und entsprechend handeln können.

Einblicke als mittelbare Zeugnisse

Welche Einblicke in Situationen sexualisierter Gewalt im kirchlichen Raum können beispielhaft gegeben werden?

Aufgabe einer Studie zu sexualisierter Gewalt ist es auch zu zeigen, “wie es gewesen ist”. Dies ist natürlich aus zahlreichen Gründen nicht möglich. Dieses Forschungsprojekt bietet jedoch, abweichend von bisherigen Studien, einzelne „Einblicke“ in Erfahrungs- und Zeugenberichte sexualisierter Gewalt. Bei diesen Einblicken handelt es sich um kurze Texte, in denen Ausschnitte aus dem Umfeld von Taten sexualisierter Gewalt erzählt werden. Diese Ausschnitte stammen aus Schilderungen in Interviews oder Akten- und Archivquellen, die, unter weitgehender Wahrung des Originalwortlauts, zu szenischen Erzählungen verdichtet wurden. Dabei wurde besonderes Gewicht daraufgelegt, dass Betroffene und Beteiligte nicht erkannt werden können. Die Einblicke sollen den Leser*innen neben der Ebene des anschaulichen Verstehens auch die – selbstverständlich begrenzte – Möglichkeit eines „Einfühlens“ in die Erfahrungswelt der vorgestellten Personen geben. Ein solches ‚fühlendes Verstehen‘ eröffnet auch Potentiale für eine effektive Prävention. Die „Einblicke“ sind so ausgewählt, dass sie an besonders aussagekräftigen Beispielen charakteristische Erfahrungen, Problemlagen und Zwangslagen schildern, die in verschiedenen Tatsituationen und deren Umfeld unabhängig voneinander zu beobachten sind. Die einzelnen „Einblicke“ weisen somit über das konkrete Fallbeispiel heraus. Die „Einblicke“ verstehen sich als „mittelbare Zeugnisse“ sexualisierter Gewalt. Sie stehen stellvertretend für unmittelbare Zeugnisse, wo diese nicht möglich sind. Ohne solche jedenfalls mittelbare Zeugnisse droht dem Erfahrungswissen Betroffener und Beteiligter in vielen Fällen das Vergessen.

Pflichten und Pflichtverletzungen der Bistumsleitungen

Was haben die Bistumsleitungen getan oder nicht getan, um sexualisierte Gewalt zu verhindern und Betroffenen zu helfen?

Bereits im Rahmen des Zwischenberichts von 2022 wurde anhand von 16 Klerikern, denen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen vorgeworfen wird, untersucht, wie die Bischöfe und die Bistumsleitungen sich verhalten haben, wenn sie Hinweise auf beschuldigte Kleriker erhielten, und bewertet, ob die ergriffenen Maßnahmen pflichtgemäß und angemessen waren. Der Befund war, dass das Bistum Osnabrück seine Pflichten, Maßnahmen gegen gefährliche Kleriker zu ergreifen, über lange Zeit erheblich verletzt, in der jüngsten Zeit jedoch überwiegend erfüllt hatte. Hingegen hatte das Bistum Osnabrück die Pflicht, den Betroffenen zu helfen, über lange Zeit in erheblichem Maße bis in die jüngste Vergangenheit verletzt. Für das Erzbistum Hamburg zeigte sich, an wenigen Fällen, ein ähnliches Bild. Inzwischen ist im Rahmen des Projekts diese Frage für die insgesamt 122 ermittelten Beschuldigten, die ihnen vorgeworfenen Taten und die von diesen Taten Betroffenen untersucht worden. Für jeden der hinzugetretenen Beschuldigten ist eine anonymisierte chronologische Rekonstruktion der Ereignisse erstellt worden, wie sie sich nach Aktenbefunden und Interviews zeigte. Von sehr kleinen Nuancierungen abgesehen stimmt das Gesamtbild der Handlungen der Bistumsleitungen mit dem im Zwischenbericht von 2022 anhand von 16 Beschuldigten gezeichneten Bild so sehr überein, dass eine vergleichbar detaillierte Darstellung zu allen 122 Beschuldigten und mehr als 400 Betroffenen wenig zielführend erschien und überdies einen Umfang von einigen tausend Seiten haben würde. Das Projekt hat deshalb davon abgesehen und sich darauf konzentriert, die Gesamtzahl der Beschuldigten und Betroffenen und nähere Angaben zu ihnen zu ermitteln und nach übergreifenden Erklärungen dafür zu suchen, welche Faktoren sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige ermöglicht oder begünstigt haben (dazu die Teile „Betroffene, Beschuldigte und Taten in Zahlen“ und „Deutungen und Umdeutungen – Sprechen über sexualisierte Gewalt“).

Nicht genauer untersucht hat das Projekt, inwieweit die, teilweise schon vorher bekannten, Organisationsmängel durch die – auch nach dem Zwischenbericht von 2022 – ergriffenen Maßnahmen verringert oder beseitigt worden sind. Dem ersten Eindruck nach scheint das Bistum Osnabrück entschlossener gehandelt zu haben als das Erzbistum Hamburg. Für das Erzbistum Hamburg sind einige Fälle hervorgetreten, die Fragen aufwerfen, z.B. ob Beschuldigte, die inzwischen im Ruhestand sind, weiter im seelsorglichen Einsatz sein sollten oder ob die Pflicht zur Erstattung einer Strafanzeige in allen Fällen erfüllt worden ist. Ob die ergriffenen Maßnahmen ausreichen, um die festgestellten Defizite, besonders im Verhalten und in der Entschädigungspraxis gegenüber Betroffenen zu beseitigen, kann angesichts des kurzen Beobachtungszeitraums nicht abschließend beurteilt werden.

Zu dem Themenkreis Pflichten eines Bistums und Rechte von Betroffenen sind mehrere gesonderte Veröffentlichungen in Vorbereitung, deren Erscheinen für 2025 geplant ist (dazu näher unten unter „Ausblick“).

Quellen und Methoden

Was haben die Forschenden unternommen, um sexualisierte Gewalt mit den Mitteln der Wissenschaft aufzudecken und zu deuten?

Der Vertrag zwischen der Universität Osnabrück und dem Bistum Osnabrück hat dem Projektteam den Zugang zu allen einschlägigen Akten, Unterstützung durch das Bistum und uneingeschränkte wissenschaftliche Unabhängigkeit zugesichert. Alle Veröffentlichungen, auch dieser Abschlussbericht, erfolgen ohne vorherige Kenntnis des Bistums und unabhängig von seiner Zustimmung.

Im Rahmen des Projekts sind alle möglichen Methoden der Quellensuche, -analyse sowie der empirischen Forschung genutzt und außerdem Datenerhebung, -verarbeitung sowie rechtliche Grenzen der Veröffentlichung laufend juristisch geprüft worden. Schriftliche Quellen stammen aus kirchlichen und staatlichen Archiven und aus der laufenden kirchlichen Verwaltung, ausnahmsweise wie im Fall von Staatsanwaltschaften oder dem Katholischen Militärbischofsamt auch aus der laufenden staatlichen Verwaltung. Die weitaus meisten angefragten Stellen haben kooperativ auf Anfragen aus dem Projekt nach Akten und sonstigem Schriftgut reagiert und die Suche und Aufbereitung aktiv unterstützt, einschließlich Arbeiten zur Anonymisierung u.a. der Namen und Daten von Betroffenen. Dies gilt insbesondere für die Diözesanarchive Osnabrück und Hamburg, die meisten staatlichen Archive, die Staatsanwaltschaften sowie für umfangreiches persönliches Schriftgut von Bischof Bode. An wenigen Stellen zeigten sich Hindernisse, insbesondere bei einigen Anfragen und Suchen nach Schriftgut der laufenden kirchlichen und staatlichen Verwaltung oder bei Stasi-Akten. Gründe waren, soweit erkennbar, Datenschutz- oder aktenordnungsrechtliche Geheimhaltungsbedenken, manchmal vermutlich auch Unkenntnis über das Vorhandensein eigener Aktenbestände. Alle diese Hindernisse konnten überwunden werden, was jedoch manchmal etwas Beharrlichkeit und Kreativität auf Seiten der Projektbeteiligten und einen Lernprozess auf Seiten der aktenführenden Stellen erforderte. Anhaltspunkte dafür, dass in der jüngeren Zeit, besonders seit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals 2010, Akten zum Zweck der Vertuschung manipuliert oder vernichtet worden sind, gibt es nicht. Es kann jedoch keine hinreichend gesicherte Aussage dazu getroffen werden, ob früher, insbesondere unter den Vorgängern von Bischof Bode und Generalvikar Beckwermert, gezielt Akten vernichtet worden sind.

Weitere wichtige Erkenntnisquellen waren, auch aufgrund zahlreicher öffentlicher Aufrufe, mündliche Hinweise, oft gefolgt von Interviews mit Betroffenen und Beteiligten. Sämtliche für Interviews angefragte Kleriker haben zugestimmt und umfassend Auskunft gegeben. Auch viele Betroffene waren zu Interviews bereit.

Auf Grundlage der Ergebnisse der Quellenarbeit und der Interviews wurde für die Zwecke des Projekts eine komplexe Datenbank mit anonymisierten aggregierten Daten zu Personen, Orten, Situationen und vielem mehr entwickelt. Deren Anlage und Einsatzmöglichkeiten sowie die daraus ableitbaren Erkenntnisse sind im Zusammengang mit der Darstellung der quantitativen Befunde erläutert.

Betroffene im Forschungsprozess

Wie haben Betroffene die Forschungen erlebt und mitgestaltet?

Um die Perspektive von Betroffenen besser nachvollziehen und schriftliche Quellen aus deren Sicht lesen zu können, hat sich das Osnabrücker Projekt sehr darum bemüht, Betroffene auch mitgestaltend am Forschungsprozess zu beteiligen. Dies schien erforderlich, damit Betroffene ihre spezifischen Erfahrungen und Fragestellungen einbringen und für besondere Erwartungen und Hindernisse sensibilisieren konnten. Letztlich ist es, auch durch glückliche Umstände, gelungen, eine – soweit ersichtlich – bisher einzigartige Form der Betroffenenbeteiligung zu finden, indem eine „Steuerungsgruppe“ gebildet wurde, die sich häufig traf und in der Betroffene gemeinsam mit den Forschenden an der Steuerung und Durchführung des Projekts arbeiteten.

Damit gab es im Ergebnis zwei Hauptlinien der Zusammenarbeit mit Betroffenen sexualisierter Gewalt, nämlich zum einen die Hinweise, Aussagen und Interviews von Betroffenen über die gegen sie verübte sexualisierte Gewalt und zum anderen die Mitwirkung von Betroffenen bei der Leitung und Gestaltung des Forschungsprojekts. Beide Linien sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Die meisten der in diesem Bericht genannten Betroffenen haben, viele erst Jahre später, sich entschieden, über die gegen sie durch Kleriker verübte sexualisierte Gewalt zu sprechen. Dieser, oft sehr viel Kraft und Mut erfordernden Entscheidung, ihr Wissen und Erleben anderen Menschen anzuvertrauen, ist es zu verdanken, dass die den Beschuldigten vorgeworfenen Taten überhaupt in Akten beschrieben oder sonst bekannt geworden sind. Für jede wissenschaftliche Forschung sind daher die Berichte und Aussagen der Betroffenen die mit Abstand wichtigste Erkenntnisquelle. Zudem spiegeln Akten, die z.B. von Kirche oder Justiz angelegt wurden, eher die Sichtweise der Institutionen als die Perspektive der Betroffenen wider. Berichte von Betroffenen wurden für die Zwecke dieses Projekts daher nicht nur als ein Korrektiv der Aktenüberlieferung angesehen, sondern als eine gleichwertige und authentische Form der Überlieferung. Die Gespräche und Interviews mit Betroffenen zum Zwecke wissenschaftlicher Forschung gingen jedoch mit ganz erheblichen wissenschaftsethischen und methodischen Herausforderungen einher. Zentral war dabei, die Freiwilligkeit, Autonomie und Anonymität der Betroffenen zu wahren und die Gespräche in angemessener Weise anzubahnen und zu führen. Welche Maßnahmen zu diesem Ziel ergriffen worden sind, ist im Abschlussbericht näher erläutert. Die vielen Hinweise, Aussagen und Interviews von Betroffenen, aber auch von anderen Kenntnisträger*innen, erwiesen sich als zentrale Erkenntnisquelle für Dinge, die keinen Eingang in Akten finden, wie Erfahrungen und Erlebnisse mit den Beschuldigten, den kirchlichen Führungsebenen und die lebensweltlichen Bedingungen in den Gemeinden. Gerade solche Gespräche ermöglichten einen vertieften Einblick in die Bedingungen, unter den sich die Taten sexualisierter Gewalt zugetragen haben.

Die letztlich gefundene Form der Betroffenenbeteiligung im Rahmen einer Steuerungsgruppe war das Ergebnis eines Lernprozesses, der von außen angestoßen wurde, indem ein Mitglied des Betroffenenrates beim Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs an die Forschenden herantrat und seine Mitarbeit anbot. Daraus entstand die Idee, eine „Steuerungsgruppe“ zu bilden, die neben der Projektleitung aus mehreren Betroffenenvertreter*innen und anderen Personen mit Erfahrungen bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt bestehen sollte. Als Betroffenenvertreter*innen sollten nur Personen gewonnen werden, deren Tatkontexte im kirchlichen Raum lagen, allerdings nicht im Bistum Osnabrück oder im Erzbistum Hamburg als dem Untersuchungsraum des Projekts. Diese dann tatsächlich gebildete Steuerungsgruppe hat in ganz erheblichem Maße den Zuschnitt, die Durchführung und die Ergebnisse des Projekts beeinflusst. Die Mitglieder der Steuerungsgruppe wurden zu „Co-Forschenden“, die auf vielen Ebenen das Forschungsprojekt mitgestaltet haben. Dies geschah beispielweise durch Impulse und Anregungen für die Kommunikation und die Gespräche mit den Betroffenen im Forschungsprojekt, die Gestaltung von Fragebögen, Interviewleitfäden und Info-Materialien und das Finden einer betroffenensensiblen Sprache, die Akteure benennt und Bagatellisierungen in der Sprache der Quellen transparent macht. Im besonderen Maße geht die Konzeption der Untersuchungen zu den „Narrativen“ und die Gestaltung der „Einblicke“ auf die Arbeit in der Steuerungsgruppe zurück.

An mehreren Stellen des Abschlussberichts wird die Mitwirkung der Betroffenen aus der Steuerungsgruppe unmittelbar sichtbar durch Kommentierungen von Mitgliedern der Steuerungsgruppe, die in den von den Forschenden formulierten Text eingefügt sind. Diese Kommentierungen sind eine eigenständige Textebene mit dem Charakter von Meinungsäußerungen der jeweiligen Autorin bzw. Autoren, die sich nicht notwendigerweise mit den Einschätzungen der Forschenden decken müssen. Die Mitglieder und viele Einzelheiten der Organisation und der Arbeit der Steuerungsgruppe sind im Abschlussbericht näher beschrieben.

Ausblick

Welche wissenschaftlichen Arbeiten laufen weiter?

Dieser Abschlussbericht zeigt Ausmaß und Ursachen, teilweise auch Folgen und Konsequenzen sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen durch Kleriker des Bistums Osnabrück seit 1945, soweit dies mit den Mitteln und Methoden dieses Projekts derzeit zu leisten ist. Es ist durchaus möglich und zu einem gewissen Grad wahrscheinlich, dass sich weitere Betroffene oder Zeugen melden und weitere Beschuldigungen erheben. In diesem Fall können die Befunde entsprechend korrigiert werden, so dass dieser Aspekt der wissenschaftlichen Erforschung zu einem gewissen Abschluss gekommen sein dürfte. Nicht am Abschluss, sondern eher am Anfang stehen dürfte hingegen die gesellschaftliche „Aufarbeitung“ und die Neuausrichtung der kirchlichen Organisation und Arbeit. Dies ist jedoch eine gesamtgesellschaftliche, kirchliche und möglicherweise auch staatliche Aufgabe und nicht eine Aufgabe „nur“ der Wissenschaft.

Die wissenschaftliche Erforschung von Umfang, Ursachen und Folgen sexualisierter Gewalt im kirchlichen Raum bleibt auch für sich genommen eine Jahrhundert- und Daueraufgabe vieler Disziplinen und ist, wie jede Forschung, sei es historische, rechtswissenschaftliche, soziologische, um nur einige der möglichen Disziplinen zu nennen, niemals abgeschlossen. Einige am Rande oder außerhalb des hier vorgestellten Projekts liegende Fortsetzungsarbeiten laufen bereits, von denen beispielhaft folgende genannt werden können.

Dazu gehören vergleichende Studien zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im kirchlich-katholischen Raum in anderen Ländern, insbesondere Frankreich und Spanien, zu denen an der Universität Osnabrück derzeit Doktorarbeiten verfasst werden. Untersuchungsbedürftig ist auch, wie der Umgang mit sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche mit dem staatlichen Recht zusammenspielt.

Zum dem Themenkreis Pflichten eines Bistums und Rechte von Betroffenen sind, wie oben schon angesprochen, mehrere gesonderte Veröffentlichungen in Vorbereitung, deren Erscheinen für 2025 geplant ist. Dies sind u.a. eine in Buchform geplante Übersicht mit Checklisten der Rechtspflichten eines Bistums in Fällen sexualisierter Gewalt, die Bistümern, Betroffenen und der interessierten Fachöffentlichkeit eine Handreichung bieten soll, wie bei Beschuldigungen vorzugehen ist. Eine erste Skizze zu den Pflichten eines Bistums in Fällen sexualisierter Gewalt findet sich bereits im Zwischenbericht von 2022 (Link dazu hier…), wobei jedoch darauf hinzuweisen ist, dass sowohl im staatlichen Recht als auch im Kirchenrecht seitdem einige Rechtsänderungen zu beachten sind. Ebenfalls in Vorbereitung ist eine Doktorarbeit zum Thema „Amtshaftungsansprüche und Prozessführung gegen Religionsgemeinschaften“, die ebenfalls 2025 abgeschlossen sein wird.

Von besonderem Interesse ist auch, ob der im vorliegenden Projekt, gewählte Zuschnitt des Untersuchungsfeldes angemessen ist. Dies betrifft besonders die für dieses Projekt vorgenommene doppelte Einschränkung des Untersuchungsfeldes zum einem auf nur durch Kleriker (und nicht durch Laien) verübte sexualisierte Gewalt im kirchlichen Raum und zum anderen die Einschränkung auf sexualisierte Gewalt nur gegen Minderjährige und ähnlich schutzbedürftige Personen. Dieser Frage soll in einer gesonderten Studie nachgegangen werden. Dazu werden Fälle in den Blick genommen, in denen Kleriker oder Laien beschuldigt werden, dass sie durch Ausnutzen ihrer Einflussmöglichkeiten im kirchlichen Raum sexualisierte Gewalt gegenüber vulnerablen Erwachsenen oder fast erwachsenen weiblichen Jugendlichen verübt haben. Dabei wird es insbesondere darum gehen, die Funktionen des Narrativs, dass es sich um eine Liebesbeziehung handele, näher zu untersuchen. Die damit angesprochene Frage ist auch, ob ein enger Projektzuschnitt auf Minderjährige bzw. ähnliche Schutzbedürftige als Betroffene und auf Kleriker als Täter den Blick auf wichtige Erkenntnisse außerhalb des Untersuchungsfeldes verstellt.

 

 

Forscherinnen & Forscher – Danksagungen

Wer hat an den Forschungsarbeiten mitgewirkt?

Die zahlreichen am Projekt Mitwirkenden in ihren verschiedenen Rollen sind im ausführlichen Abschlussbericht genannt, ebenso der Dank an die zahlreichen Archivare, kirchlichen und staatlichen Amtsträger, Beamten, Mitarbeiter*innen und viele andere mehr, die das Projekt unterstützt und dazu beigetragen haben. Besonders gewürdigt werden sollen an dieser Stelle aber die Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind und die Vertrauen und Mut hatten, darüber zu sprechen. Der hier vorgelegte Abschlussbericht kann nicht und hat auch gar nicht den Zweck, das Erleben und die Erfahrungen jedes einzelnen wiederzugeben. Deshalb wird es häufig so sein, dass Betroffene sich und ihre individuelle Geschichte gar nicht darin wiederfinden. Wir hoffen aber doch, dass sie sich und ihre Geschichte in dem gezeichneten Gesamtbild wiedererkennen. Wir hoffen insbesondere, dass diese Arbeit dazu beiträgt, das Geschehen aufzuarbeiten, Erinnerung und Mahnung wach zu halten, zukünftige Taten zu verhindern und, jedenfalls etwas, mehr Gerechtigkeit zu schaffen.

Begriffe

Im Rahmen des Abschlussberichts verwenden wir wiederkehrend zentrale Begriffe, die wir an dieser Stelle definiert und erläutert haben: Glossar